Jede Seite im Web ist ein möglicher Einstiegspunkt – und dennoch werden viele Inhalte so gestaltet, als käme man brav über die Startseite. Das Resultat: Verwirrung, Absprünge und verschenktes Potenzial. Zeit umzudenken.
Es war einmal die Startseite. Stolz thront sie über der Webpräsenz, mit grossflächigem Bild, Claim und Button. Sie soll der Anfang sein – der Anfang einer Reise, wohlgelenkt und geplant.
Doch dann kam Google. Und Social Media. Und ChatGPT. Und plötzlich steigen die User irgendwo ein: auf einer Unterseite, in einem Help-Artikel, bei einer Stellenanzeige. Ohne Kontext, ohne Orientierung, mitten im Geschehen. Und sie stellen sich Fragen: Wo bin ich hier? Was kann ich hier tun? Ist das relevant für mich?
„Every page is a landing page“ ist keine Hypothese, sondern Realität. Jede Seite kann Einstiegsseite sein. Und genau deshalb muss jede Seite drei Dinge leisten: das Ziel bestätigen, Orientierung bieten, zur erwünschten Handlung auffordern.
Doch viele Websites ignorieren das. Unterseiten sind oft wie digitale Abstellkammern: intern gedacht, technisch benannt, mit Informationen, die sich nicht einordnen lassen. Wer direkt dort landet, hat Pech gehabt oder muss mühsam über die Homepage neu einsteigen.
Da steht das Feature korrekt beschrieben, die Details minuziös dargelegt. Die Vorteile? Irgendwo im PDF. Die Zielgruppe? Unklar. Die nächste Aktion? Vielleicht im Footer versteckt. Dabei Ware es so einfach:
• Für wen ist dieses Angebot?
• Was bringt es konkret?
• Was kann ich jetzt tun?
Drei einfache Fragen. Eine grosse Wirkung: Orientierung. Verweildauer. Vertrauen.
Selbst eine gute Idee kann durch schlechte Platzierung wirkungslos werden. Wer denkt, dass SEO allein das rettet, vergisst: Sichtbarkeit ist nur der erste Schritt. Verstehen ist der zweite. Handeln der dritte. Und genau daran scheitern viele Seiten.
In die Gestaltung der Startseite und die Aufteilung deren Real Estate auf die Produkte, Key Messages und Blog-Teaser wird sehr viel Energie investiert: Workshops, Personas, Wireframes, Tests. Und die restlichen 47 Seiten? Diese bekommen ein Copy-Paste-Layout und ein paar Bulletpoints. Das ist, als wurde man ein Luxushotel mit Marmor-Eingang bauen und dahinter leuchtstoffröhrenbeleuchtete Besenkammern mit Feldbett anbieten.
Content-Strategie bedeutet, jeder Seite einen Zweck zu geben – nicht nur existieren zu lassen. Wer Seiten nur für interne Navigation baut, verschenkt ihr Potenzial. Denn Nutzerinnen interessieren sich nicht für unsere Struktur. Sie interessieren sich für ihre Aufgabe.
Das Internet ist kein Buch, das von vorne gelesen wird. Es ist ein Netzwerk von Treffpunkten, Umwegen und Quereinstiegen. Wer das nicht versteht, gestaltet an der Realität vorbei.
Digitale Souveränität zeigt sich nicht im Design der Startseite, sondern in der Qualität der Seiten, auf denen man ungeplant landet. Dort entscheidet sich, ob jemand bleibt – oder für immer verschwindet.
Machen Sie den Selbsttest: Öffnen Sie eine beliebige Unterseite Ihrer Website. Ist sofort klar, für wen sie gedacht ist, was sie bringt und wohin sie fuhrt? Wenn nicht: Überarbeiten Sie. Oder wie wir Ergonomen sagen: „Jede Seite ist eine Einladung. Die Frage ist: Fühlt man sich willkommen?“
Ihre Seiten verdienen mehr als gute Absicht. Reden wir darüber!
(zuerst veröffentlicht in Netzwoche 6/2025)
Inhaber, Expert Consultant
Dr. Christopher H. Müller, Gründer und Inhaber der Ergonomen Usability AG, promovierte am Institut für Hygiene und Arbeitsphysiologie der ETH Zürich. Er ist seit mehr als 22 Jahren Experte für Usability und User Experience. Sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen ermöglicht es ihm, rasch die Bedürfnisse und Perspektiven der Kunden zu verstehen. Mit viel Kreativität und Mut unterstützt er seine Kunden in Digitalisierungsvorhaben und bei der Optimierung von Produkten, Dienstleistungen oder Prozessen. Er verfolgt einen praxisorientierten Ansatz und entwickelt massgeschneiderte Lösungen, die effektiv umgesetzt werden können. Dr. Christopher H. Müller ist Kolumnist in der Netzwoche. Weitere Engagements sind unter anderem Stiftungsrat bei der Stiftung Zugang für alle, Mitglied in zwei Swico-Beiräten und Co-Präsident der Regionalkonferenz Nördlich Lägern.